Haltestelle (Auf der Flucht)

Ich schaue mich um...

Nach einem pölnischen Abgang ging ich so schnell wie möglich weg. Ich schämte mich eigentlich davor, dass ich sowas getan hatte, obwohl es ja gar nichts bedeutete. Trotz alledem glaubte ich, jemand würde mich suchen, und ich wollte nicht gefunden werden. Ich war auf der Flucht.

Ich wusste, wo ich sicher wäre, wohin ich gehen müsste, ich müsste nur zur Haltestelle gelangen, dann wäre das Ganze vorbei, das Zuhause so gut wie erreicht. Da ging ich um die Ecke und sah durch die hellwerdende Dunkelheit das Schild meines Zieles, mit grün umkreistem „H“ hoch auf seinem gelben Pfosten hervorragend. Ich näherte mich eifrig der Haltestelle, die mir die Erlösung heißen sollte, aber sie hatte mir schon eine eisige Enttäuschung bereitgestellt. Kein Bus für eine Dreiviertelstunde.

Mittlerweile fing ein leichter Regen zu fallen an und natürlich hatte ich keinen Regenschirm dabei. Meinen früheren Gastgebern wäre mein Fehlen wahrscheinlich bewusst geworden und sie hätten begonnen, mich zu verfolgen. Ich blickte nervös in Richtung Party, der ich nach einer überschnell getroffener Entscheidung entflohen war, und wusste, ich konnte hier nicht lange bleiben. Ich stand aber doch eine Weile unter dem grünen Rettungsschild, um mich zu erholen. Einige Minuten später ging ich fort.

Der Bus würde mich retten, aber Warten hieß ein Ende. Ich musste mich in Bewegung halten, den Bus nachholen, sonst würde mich meine Gedanken in Wirrnis treiben. Jede verschwundene Minute könnte den Sieg meiner Vervolger bedeuten und ich musste, absolut musste denen entkommen. Es gab keinen Moment für Zweifel, ihm gab es keinen Platz – die Erlösung hieß Handeln! Ich ging weiter, zur nächsten Haltestelle, zur Hoffnungsstätte.

Da hielt ich kurz auf, wie vorher. Immer noch vierzig Minuten Wartezeit, laut Anzeigetafel. Die Gedanken fingen wieder an zu laufen, umzuwälzen, und ich war mir nicht mehr sicher, ob jemand hinter mir war. Waren diese Sorgen umsonst? Aber ich konnte mich nicht entschuldigen, dafür war es zu spät. Eine mysteriöse, eingebildete Gefahr hing verhängnisvoll über mir und ich reagierte ohne zu denken. Ich lief von dieser Stelle der Klarheit, vor den eigenen Gedanken zurückschreckend. Mir war es peinlich geworden, trotz der Unbedeutsamkeit, aber alle andere Wahl war schon längst vernichtet, es blieb mir nur die Sache vollzuziehen. Die Finsternis meines Hirns setzte sich den Farben des Sonnenaufgangs entgegen, der den Horizont in breiten lilaroten Strichen abpinselte, die langen Fangarme des Tages durch die dicke aber lückenhafte Wolkendecke durchdringend.

Der Regen fiel jetzt in Riesentropfen und ich war längst pitchnass, seit einer betrügerischen Ewigkeit war mir die Kälte bis in die Knochen gekrochen. Ich konnte aber, durfte nicht aufgeben. Das Kinn fest auf der Brust gepresst zwang ich jeden Schritt ins Graue. Haltestellen gingen an mir vorbei aber ich erkannte sie nicht mehr, sie gingen in Veschwommenheit nieder. Nicht mehr ein Sieg, jede neu erreichte Haltestelle fügte noch zu der Qual des Fliehens hinzu und die Müdigkeit brach allmählich ein. Ich sehnte mich nach Wärme, nach der warmen Umarmung des eigenen Betts.

Hinter mir tauchte ein künstliches Licht aus der Straßenwelle, die Sonnenstrahlen angreifend, und meine Umgebung funkelte in dessen Zauber. Ich kehrte mich um – zwei weiße Pünktchen schnellten in meine Richtung. Aber die Haltestelle, wo? Im Moment der Not war ich zu weit gegangen und meine Arche schwamm schnell voran. Ich sah im Glanz der Scheinwerfer, in nicht mehr als fünfzig Meter Entfernung, das sanfte, sympathische Grün der Bushaltestelle, ich musste es doch schaffen. Allen Kummer vergessend rann ich dahin, der Bus mich einholend, aber ich stand schon neben dem gelben Pfosten. Der Bus bremste, mit lautem Schrei meldete er seine Ankunft und ich stieg keuschend in die heilige Kutsche ein.

Ich zeigte dem Busfahrer mein Semesterticket und mein erschöpfter Körper stürtze in den nähesten Sitz ein. Der einzige Fahrgast im Bus, den leicht hängenden Kopf gegen das Fenster gestützt, flog ich durch die Stadt. Die Sonne warf mir ihren erheiternden, schillernden Gruß über den Horizont, als ich einschlief.

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